5.6.9.2 Das Problem der Boltzmann Gehirne
„Das Problem der Boltzmann-Gehirne gewann in den letzten 20 Jahren wieder an Bedeutung, da unter gewissen, spekulativen Annahmen in der Quantenfeldtheorie [vgl. 5.5.3.1] sowie bei einer bestimmten Interpretation des holografischen Prinzips [vgl. 5.1] sich ableiten lässt, dass in der fernen Zukunft des Universums zahlreiche Boltzmann-Gehirne entstehen werden [13.]
Der Physiker Sean M. Carroll argumentierte beispielsweise, dass sich physikalische Modelle falsifizieren lassen, falls sie die Formierung von Boltzmann-Gehirnen vorhersagen…„
Abb. 1 Bild: affen ajlfe (www.modup.net), Flickr, gemeinfrei. „Das Boltzmann Gehirn Szenario ist einer der eindringlichsten Einwände Roger Penroses gegen Multiversum Theorien. Daher kann die Auffassung einer Feinabstimmung [fine-tuning] unseres Universums dadurch erklärt werden, dass man festellt, es existiert ein Welten Ensemble von unterschiedlichen, zufällig angeordneten Universen, sodass alleine durch Zufall feinabgestimmte Universen irgendwo in dem Ensemble auftauchen werden. Und da es nur in feinabgestimmten Universen Beobachter gibt, ist es nicht überraschend, dass wir beobachten, dass die Anfangsbedingungen unseres Universums ein Feinabstimmung zugunsten von Leben beinhaltet. Penroses Einwand gegen das Multiversum bzw. die Welt Ensemble Hypothese lautet, dass, wären wir nur ein Teil eines zufällig angeordneten Welt Ensembles, würden wir mit einer wesentlich größeren und umfassenderen Wahrscheinlichkeit ein ganz anderes Universum beobachten, als dass, was wir sehen. Es ist eine Tatsache, dass es beobachtbare Universen gibt, die nicht so feinabgestimmt sind, das sie intelligentes Leben hervorbringen. Es könnte ein Universum im thermodynamischen Gleichgewicht geben, ein nichtssagendes Meer des Chaos, das nur eine winzige geordnete Region enthält, etwa nicht größer als unser Sonnensystem. Eine derartige Welt könnte beobachtet werden. Es könnte Beobachter in der kleinen Region geben, auch, wenn dieses Universum nicht feinabgestimmt ist, um ihre Existenz zu ermöglichen. Eine derartige Welt ist viel, viel wahrscheinlicher als ein feinabgestimmtes Universum wie das unsere. Tatsächlich würde das wahrscheinlichste Universum eines sein, das nur aus einem einzigen Gehirn besteht, das aus der Energie, die im Vakuum eingeschlossen ist, in seine Existenz fluktuiert und das illusionäre Wahrnehmungen einer äußeren Welt und eines Universum besitzt, das es umgibt. Das Argument lautet also, wären wir nur ein zufälliger Teil eines Multiversums, dann sollte jeder von uns glauben, dass er ein Boltzmann Gehirn ist und dass er Alles ist, was existiert: dass sein Körper, andere Menschen, dieser Raum, die Erde, das Universum, all dies eine Illusion seines Gehirns sind. Und kene gleiche Person glaubt dies. Dies liefert ein sehr starkes Argument dafür, dass Feinabstimmung nicht mit der Aussage erklärt werden kann, dass wir nur ein zufälliger Teil eines Welt Ensembles von Universen sind. Der Boltzmann Gehirn Einwand bildet ein sehr , sehr schweres Problem für die Enthusiasten des Multiversums.“ [Übers. d. Verf.]1
Die These der Entstehung von Boltzmann Gehirnen, benannt nach dem österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann, der sich schon im 19. Jahrhundert mit ähnlichen Überlegungen beschäftigte, „korrespondiert mit der Vorraussage, dass wir sehr wahrscheinlich körperlose Gehirne sind, die durch große Quantenfluktuationen geschaffen wurde…Das Paradox entsteht auf Grund der Existenz heißer Regionen wie der unseren, die als Folge einer früheren Phase einer ‚langsamen Inflation‚(’slow-roll Inflation‘, vgl-Abb. 2) in einem Multiversum relativ selten sind (vgl. Abb. 2 Slow-Roll Inflation).

Abb. 2 zeigt ein skalares Quantenfeld [Inflaton], dessen Potential nach unten rollt. Die schattierte Region umfasst den Bereich der Slow-Roll Inflation [langsames Hinunterrollen des Feldes]. Das Feld endet schließlich am Boden seines Potentials, wo eine erneute Erhitzung erfolgt (i.e. die Energie des skalaren Feldes wird in Partikel des Standardmodells umgewandelt [Übers. d. Verf.].“2
„Der größte Teil des Raumzeitvolumens [eines De-Sitter Universums] wird von leeren Quasi-De-Sitter Phasen eingenommen. Daher können ‚Freak-Beobachter‚ (= Boltzmann-Gehirne), die durch große Quantenfluktuationen im Vakuum entstanden sind, möglicherweise leicht die „gewöhnlichen Beobachter„, die in heißen Regionen leben, an Zahl übertreffen. Dies hängt natürlich davon ab, wie wir die Anzahl der beiden Arten von Beobachtern regulieren, und es ist vorstellbar, dass einige Maßstäbe (‚measures‘) das Problem vermeiden, vorausgesetzt, (die Landschaft der Vakua [landscape of vacua] erfüllt bestimmte Eigenschaften). … 3
Aber: Wenn das gegenwärtig favorisierte Weltmodell zutrifft, könnten sich nicht nur unendlich viele solcher seltsamen Gehirne bilden. Sie könnten auch in einer Art Wahnvorstellung – wenigstens für ein paar Momente – ein Universum ringsherum imaginieren.
Und: jeder von uns könnte ein solches Gehirn sein. Noch radikaler: Sie, lieber Leser, könnten allein existieren und ein solches Boltzmann-Gehirn sein. Dann wäre die gesamte Außenwelt Ihre wahrhaft kosmische Halluzination. .. Die Atemluft ringsum, die Bäume am Horizont und auch die fernsten Galaxien wären eine riesige Täuschung. Und das gälte auch für alle Erinnerungen, etwa an die Dinosaurier-Fossilien im Museum oder an den letzten Strafzettel wegen einer Geschwindigkeitsübertretung.
So abstrus das alles klingen mag – es ist kein bloßes Hirngespinst (oder eben doch …). Denn es gibt ein gutes Argument dafür, dass in einem bestimmten Volumen, etwa dem des beobachtbaren Universums, unendlich viele Boltzmann-Gehirne entstehen können, aber nur endlich viele ’normale‘ intelligente Beobachter, beispielsweise Menschen. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, ein Boltzmann-Gehirn zu sein, unendlich viel größer als etwa die, ein Mensch zu sein. …
Abb. 3 Leonard Susskind an der Stanford University (2013)
Dieses Argument, das von dem renommierten Physiker Leonard Susskind von der Stanford University stammt, droht die Kosmologie in eine schwere Krise zu stürzen. Es stützt sich auf die Entdeckung der Dunklen Energie, die seit etwa fünf Milliarden Jahren dafür sorgt, dass sich der Weltraum immer schneller ausdehnt. … Und so wie am Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs aufgrund von quantenphysikalischen Prozessen eine schwache Strahlung entsteht – das war Stephen Hawkings bahnbrechende Entdeckung 1974 -, wird auch ein beschleunigt expandierender Raum von Photonen und anderen Teilchen erfüllt.
Das haben Hawking und Gary Gibbons von der University of Cambridge 1976 berechnet [vgl. 5.6.6.3 Parameter des DE-Sitter Raumzeit]. Die Gibbons-Hawking-Strahlung ist außerordentlich schwach:
Sie entspricht einer Temperatur von weniger als 10-28 Grad Celsius. Aber diese Quantenenergie des Vakuums reicht aus, um in langen Zeiträumen – und das de-Sitter-Universum sollte ewig existieren – unendlich viele Boltzmann-Gehirne sowie andere Seltsamkeiten hervorzubringen. …
Man kann diese Schlussfolgerung auch quantifizieren. So hat Roger Penrose von der Universität Oxford abgeschätzt, dass die Wahrscheinlichkeit für unser Universum, so wie es ist, nur 1 zu 1010 x 123 beträgt. … Im Vergleich dazu ist die Wahrscheinlichkeit für eine kurzlebige kosmische Einbildung ziemlich groß: Zwischen vielleicht 1 zu 1010 x 21 für einen bewussten, kleinstmöglichen Computer und 1 zu 1010 x 51 bis 1 zu 1010 x 70 für ein Boltzmann-Gehirn.
Auch diese Zahlen sind astronomisch groß – aber verglichen mit 1 zu 1010 x 123 geradezu mickrig. … Die kosmische Ordnung, wie wir sie beobachten, sollte also pure Fantasie sein und mit dem sofortigen Ableben des Boltzmann-Hirns augenblicklich wieder verschwinden. Das ist die bizarrste und verstörendste Schlussfolgerung oder Vorhersage in der Geschichte der Kosmologie. Zwar glaubt kein Forscher ernsthaft daran – doch es weiss auch keiner, wo der Fehler steckt. Insofern sind Boltzmann-Gehirne keine weltfremde Spinnerei abgehobener Wissenschaftler, sondern eine Art Reality Check.
Ein Ausweg aus dem ko(s)mischen Paradoxon könnte darin bestehen, dass wir keine typischen Beobachter sind [typische Beobachter ‚leben in einer Galaxie, wie der unseren und machen ihr Koordinatensystems zur Grundlage ihrer Beobachtung kosmologischer Untersuchungen‘. 4 Dann wäre der Vergleich mit Boltzmann-Gehirnen womöglich gegenstandslos.
James Hartle und Mark Srednicki von der University of California in Santa Barbara haben so argumentiert. Anders gesagt: Vielleicht ist das All, das wir erforschen, nur eine unwahrscheinliche Ecke im ganzen Kosmos. ‚Das ist wie mit den Menschen auf der Erde‘, sagt Hartle. ‚Sie sind auch viel seltener als die Insekten.‘ Das hieße aber, dass wir die meisten Vorstellungen vom Kosmos über Bord werfen müssen und wohl niemals herausfinden können, wie er wirklich beschaffen ist.
‚Die Annahme, dass wir typische Beobachter sind, ist grundlegend für alles, was wir in der Kosmologie tun. Machen wir sie nicht, können wir keine wissenschaftlichen Schlüsse ziehen‘, entgegnet Alex Vilenkin von der Tufts University in Medford, Massachusetts.
Insofern ist das Szenario der Boltzmann-Gehirne mehr als nur ein Test für die Plausibilität kosmologischer Hypothesen. Es hilft auch dabei, Modelle zu spezifizieren sowie zu bewerten – und vielleicht sogar dabei, Erklärungen für bislang rätselhafte Phänomene wie den Wert der Dunklen Energie zu finden. Die etablierten Theorien versagen hier nämlich.“ 5
- Kevin Harris, „Many Worlds and Boltzmann Brains, in: „, Reasonable Faith Podcast, May 14, 2018, [Digital Publication], URL: https://www.reasonablefaith.org/media/reasonable-faith-podcast/many-worlds-and-boltzmann-brains ↩︎
- Cosmology II: A course on the formation of the cosmic microwave background and structures in the Universe: Learn the theory, get the physical understanding and make your own CMB code: Initial onditions [Digitale Ausgabe], URL: https://cmb.wintherscoming.no/theory_initial.php#init ↩︎
- J. Garriga and A. Vilenkin, Holographic Multiverse, Universitat de Barcelona, Tufts University, Medford, 2009, pp. 5 seq. [Digitale Ausgabe], URL: https://arxiv.org/pdf/0809.4257.pdf ↩︎
- Ib.,p. 2, 4 seq. ↩︎
- Grant N. Remmen and Sean M. Carroll, Attractor solutions in scalar-field cosmology, California Institute of Technology, September 11, 2013, p. 1, https://arxiv.org/pdf/1309.2611.pdf ↩︎


