7.2.4 Prozessphilosophie und Panpsychismus
Im Gegensatz zur traditionellen Substanzmetaphysik, die die abendländische Philosophie seit der Antike bestimmte, lehnt die Prozessontologie die Bedeutung dauerhafter Substanzen als Grundelemente der Wirklichkeit ab.
Sie betrachtet die Realität vielmehr als ein Beziehungssystem von Ereignissen und Prozessen, die zusammen eine ganzheitliche (holistische) Struktur der Wirklichkeit konstituieren.1
1) Erster Vertreter der Prozessphilosophie
Abb. 1 Heraklit von Giuseppe Torretti (1705)
Als ein ersten Vertreter der Prozessphilosophie kann man vielleicht Heraklit (geb. um 520 v. Chr.; + um 460 v. Chr.) betrachten, der dem „Werden“ (panta rhei) eine höhere Bedeutung zuschrieb als dem „statischen Sein„, dem der Begründer der griechischen Substanzmetaphysik, Parmenides von Elea (geb. um 520/515 v. Chr., + um 460/455 v. Chr.), einen absoluten ontologischen Prozess.2
2) Gruppen von Prozessphilosophen
Es lassen sich nach Johanna Seibt (vgl. 7.2.5) zwei unterschiedliche Gruppen von Prozessphilosophen unterscheiden: zum einen, Anhänger einer teleologischen bzw. theologischen Orientierung, „die die Prozessualität der Natur als Folge der teleologischen [theologischen] Gerichtetheit auf ein positives Ziel hin betrachten.“ Sie verstehen „die zentrale Rolle der inhärenten Dynamik der Natur im Sinne einer zielgerichten Zweckmäßigkeit .., die durch eine werte-gerichtete steuernde Kraft [Schöpfer?] vorab festgelegt wurde.“
Vertreter einer naturalistischen bzw. säkularistischen Orientierung verstehen „die Prozessualität der Natur [zwar ebenfalls] als Folge einer inneren Dynamik, ohne jedoch eine Gerichtetheit, oder zumindest eine Gerichtetheit auf ein feststellbares Ziel hin, [zu berücksichtigen].“ 3
3) Alfred North Whiteheads „panexperientalistische Prozessmetaphysik“
„Neben bedeutenden Philosophen, wie Aristoteles, Friedrich Nietzsche, Leibniz, Hegel und Spinoza, die man [eher partiell] ebenfalls der Prozessphilosophie zurechnen kann … muss im 20. Jhd. vorallem die Metaphysik des englischen Mathematikers und Philosophen Alfred North Whitehead [1861-1947] und seines Schülers Charles Hartshorne [1897-2000]“, genannt werden; letzterer entwickelte das metaphysische Konzept Whiteheads zur Prozesstheologie weiter. 4
Unter [dem vonvon Whitehead vertretenen] Panexperientalismus versteht man eine Form des Panpsychismus, „nach dem alle Entitäten in der Welt eine Vorform einer rudimentären Erfahrungsfähigkeit besitzen.“ Der Panexperientalismus bietet eine interessante mögliche „Lösung des ‚harten Problems‘ des Bewusstseins (David Chalmers), wie aus gänzlich nicht erfahrungsfähigen Materieteilchen eine neue Qualität des Bewusstseins entsteht.“5
„.. Whiteheads Kritik an der Naturwissenschaft …“ relativiert eine präsumtive absolute Erkenntnistiefe der traditionellen Physik und lehnt folglich die unreflektierte Übernahme eines naturwissenschaftlichen Deutungsanspruchs durch die Philosophie ab.
„Der von Whitehead diagnostizierte ‚Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit‚ (1, S. 66) lässt sich mit einem bekannten Bild von Alfred Korzybski [polnisch-amerikanischer Ingenieur und Autor] veranschaulichen: Die Naturwissenschaften erstellen die Landkarte der Wirklichkeit, doch diese abstrakte und verallgemeinernde Landkarte sagt nichts darüber aus, wie die Landschaft samt ihrer qualitativen und vielschichtigen Merkmale an und in sich beschaffen ist. Das heißt, die Naturwissenschaften arbeiten mittels einer objektiven ‚Sprache der Mathematik‘. Hieran ist nichts auszusetzen, und die Erkenntnisse der Naturwissenschaften sind nach Whitehead nicht anzuzweifeln.
Doch sollten diese abstrakten Relationen nicht mit der Reichhaltigkeit und Vielseitigkeit der Wirklichkeit per se verwechselt werden. Das bewusste Erleben unserer Umwelt – ihre Farben, Gerüche, Töne und Freuden – ist genauso Teil der Wirklichkeit wie die abstrakten Naturgesetzlichkeiten. Ein umfassendes Verständnis der Wirklichkeit muss alle Aspekte berücksichtigen und darf nicht blindlings von dem abstrahieren, was die Theorie ursprünglich zu erklären beanspruchte (4, S. 33).“6
a) Whiteheads holistisches Weltbild.
Für Whitehead ist Wirklichkeit durch „Geschehen“ (Prozesshaftigkeit), nicht, wie im Substanzmaterialismus, durch Substanzen (Dinge), bestimmt. Realität bildet ein Beziehungsgeflecht aus ultimativen, nicht hintergehbaren, sowie im ihrem Inneren zusammenhängenden, interdependenten Einzelereignissen, die er „actual entities“ („aktuale Ereignisse“, „Geschehnisse“) nennt.7
Sie stellen ontologische Grundeinheiten dar, vielleicht vergleichbar mit der aristotelischen „ουσια“ (wesenhaftes, dauerhaftes Sein).8
Aktuale Ereignisse dürfen aber nicht als feste, substantielle Einheiten gesehen werden, sondern sind „als Werdeprozesse, (Konkretisierungen; Konkreszenz) und durch Prehensionen wesentlich auf die anderen aktualen Entitäten bezogen. Das heißt, die anderen aktualen Entitäten leisten einen .. [essentiellen] und nicht nur einen akzidentiellen Beitrag zu der neu entstehenden aktualen Entität.“9
Ein einzelnes menschliches Bewusstsein „in einem Augenblick ist ein wirkliches Einzelwesen, ebenso wie ‚der trivialste Hauch von Sein im weit entlegenen leeren Raum’….“10
Jedes „aktuale Ereignis“ besitzt nach Whitehead einen physischen und einen mentalen Pol (Bipolarität):
(i) Durch den physischen Pol besteht zwischen „aktualen Ereignissen“ eine Relation, die Whitehead als „prehension“ (Prehension, Erfassen) beschreibt. Ein bereits vollendetes „aktuales Ereigniss“, erlangt nach Realisierung seines, „subjektiven Ziels“, den Zustand der „Satisfaktion“ und damit das Ende seiner Existenz als erlebendes Subjekt.
Fortan dient es als Objekt für die Prehensionen nachfolgender aktualer Gegebenheiten. Die Welt erreicht durch diesen Prozess einen immer höheren Grad der Komplexität.11
Die Realisierung des subjektiven Ziels eines aktualen Ereignisses, als Ausdruck seiner subjektiven Freiheit, erfolgt durch die Vereinigung aller angesammelten, vergangenen, Prehensionen zu etwas Neuem (subjektivem Ziel).12
(ii) Der „mentale Pol“ eines aktualen Ereignisses ermöglicht die Herstellung einer Beziehung zu den „ewigen Gegenständen„ („eternal objects„), bei denen es sich um die abstrakten Möglichkeiten (Formen, Bestimmungen) des Universums handelt.13 Sie können vielleicht mit Platons „ewigen Ideen“ verglichen werden. Die aktualen Ereignisse unterscheiden sich hinsichtlich der Art und Weise ihrer Realisierung von Möglichkeiten („ewigen Gegenständen“) nach Maßgabe des Prinzip der „Kreativität„.
Was die Substanzphilosophie als Persistenz der Dinge, d.h. der ontologischen Beharrlichkeit der Substanzen versteht, nennt „Whitehead „Abfolge“ („succession„) oder „Route“ aktualer Ereignisse mit einer gemeinsamen Charakteristik. … Veränderung wird definiert durch die kreativen Beiträge jedes „aktualen Ereignisses“, die in der Abfolge und Dauer (Enduranz) liegt, i. e. in den gemeinsamen Qualitäten, welche es von vorausgegangenen Ereignissen geerbt hat.
Auf diese Weise wird der Fluss und die Stabilität aller Dinge erklärt, ob es sich um Elektronen, Felsen, Säugetiere oder den Menschen handelt. Der Mensch ist ein(e) extrem komplexe „Route“ bzw. ein „Nexus“ von Ereignissen, ausgestattet mit Gedächtnis, Vorstellungskraft und verstärktem Gefühlsleben.“14
b) Whiteheads pantheistischer Gottesbegriff.
Whiteheads philosophischer Begriff „Gottes“ determiniert die Grundstruktur seiner holistisch–panentheistischen Metaphysik. Er weist folgende Bestimmungen auf:
(i) „Gott ist das höchste aktuale Ereignis und besitzt daher auf vollkommendste Weise die Funktionen eines aktualen Ereignisses.“ Er steht nicht über der metaphysischen Ordnung, sondern ist die „wichtigste Verkörperung“ der prozessualen Bewegungen. Er „prehendiert alle Entitäten (aktualen Ereignisse) und wird teilweise von ihnen prehendiert.“ Er begrenzt die Kreativität der „aktualen Ereignisse und beeinflusst ihre subjektiven Ziele, indem er jede Entität mit einem ‚idealen Ziel‘ ausstattet.“ Dies geschieht durch seinen „mentalen Pol“ (seine „primordiale Natur“), vermittels dessen/der er sich alle „ewigen Gegenstände“ und ihren abgestuften Wert vergegenwärtigt.“15
(ii) Gott muss existieren, weil es ohne „ewige Gegenstände“ keine realisierbaren vernünftigen Möglichkeiten oder Werte geben würde“ und nur das, was tatsächlich existiert, kann aktuale Ereignisse beeinflussen.
(iii) Gott ist bipolar. Er besitzt neben seiner „primordialen Natur“ „auch einen physischen Pol (seine „konsequente Natur“), durch den/die er die vollendeten Aktualität eines jeden Ereignisses fühlt und diesen eine ‚objektive Unsterblichkeit‚ in seinem göttlichen Leben verleiht“ (nur Gott besitzt eine persönliche Unsterblichkeit). „Zudem „gibt“ er der Welt die „Daten“ der vollendeten Ereignisse zur Fortsetzung des kosmischen Prozesses „zurück“.
„Indem Gott die Entitäten der Welt prehendiert und von ihnen prehendiert wird interagiert er mit allen Lebewesen der Welt und ist daher radikal immanent im Weltprozess, führt ihn zu immer höherem Wert und ästhetischer Intensität.
Und obwohl Gott die Welt in seiner primordialen Natur transzendiert, beinhaltet er als aktuales Ereignis konsequenterweise die Welt, leidet und wächst mit ihr dank der Kreativität, die er und die Welt besitzen [Panentheismus].“16
- Artikel „Prozessphilosophie“, in: Wikipedia, [Digitale Ausgabe], URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Prozessphilosophie ↩︎
- Artikel „Parmenides“, in: Metzler Philosophen-Lexikon, Spektrum.de, [Digitale Ausgabe], URL: https://www.spektrum.de/lexikon/philosophen/parmenides/248 [Digitale Ausgabe], URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Prozessphilosophie ↩︎
- Johanna Seibt, „Process Philosophy“, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2017, [Digitale Ausgabe], URL: https://plato.stanford.edu/entries/process-philosophy/#CurrChal ↩︎
- Artikel „Prozessphilosophie“, in: Wikipedia, [Digitale Ausgabe], URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Prozessphilosophie ↩︎
- Tobias Müller, „Eine prozessphilosophische Grundlegung zum Dialog von Naturwissenschaften und Religion“, in: Zukunftsperspektiven im theologisch-naturwissenschaftlichen Dialog, herausgegeben von Patrick Becker, Ursula Diewald, Georg Gasser, Vandenhoek & Ruprecht, Göttinmgen: 2011, S. 138 ff., hier: S. 148,[Digitale Ausgabe], URL: https://books.google.de/books?id=m1m-iIN5cAYC&pg=PA148&lpg=PA148&dq=Panexperientialismus&source=bl&ots=vxRF5a78xe&sig=ACfU3U2BetR7G1S1PQSniki5NHpghUO1EQ&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjHw9_Bwr72AhXB6aQKHbBdBOwQ6AF6BAgUEAM#v=onepage&q=Panexperientialismus&f=false ↩︎
- Patrick Spät, „Whitehead lesen“, in: Information Philosophie: Die Zeitschrift, die über Philosophie informiert, Studium, 2014, Heft 2, [Digitale Ausgabe], URL: www.information-philosophie.de ↩︎
- Whiteheads „actual entities“ lassen sich in Beziehung setzen zu modernen Vorstellungen und Ergebnissen der Quantenphysik, nach der sich unserere wahrnehmbaren Wirklichkeit als Ergebnis von Prozessen unterschiedlicher, wechselwirkender Quantenfelder verstehen lässt. (d. V.) ↩︎
- Roland Wegscheider, Whiteheads Prozessphilosophie und seine Perspektive zur Evolution, in: Philosophie des 20. Jahrhunderts, [Digitale Auzgabe], URL: https://www.grin.com/document/323021 ↩︎
- Artikel „Alfred North Whitehead“, in: Wikipedia, [Digitale Ausgabe], URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_North_Whitehead ↩︎
- Ibd. ↩︎
- Roland Wegscheider, Whiteheads Prozessphilosophie und seine Perspektive zur Evolution, in: Philosophie des 20. Jahrhunderts, [Digitale Auzgabe], URL: https://www.grin.com/document/323021 ↩︎
- D W Diehl, „Process Theology“, Artikel in: Elwell Evangelical Dictionary, http://mb-soft.com/believe/txn/process.htmvgl; vgl. auch Tobias Müller, Glossar zur Metaphysik von Alfred North Whitehead, in: BRILL, Over three centuries of scholarly publishing, pp. 303-308, here: pp. 303-304,[Digitale Ausgabe], URL: https://brill.com/view/book/9783657765706/BP000012.xml?lang=de ↩︎
- Roland Wegscheider, Whiteheads Prozessphilosophie und seine Perspektive zur Evolution, in: Philosophie des 20. Jahrhunderts, [Digitale Ausgabe], URL: https://www.grin.com/document/323021 ↩︎
- Ib. ↩︎
- Ib. ↩︎
- Ib. ↩︎

