4.1 Relative Zustände
Hugh Everett fasste seine „Relative State“ Theorie (Theorie relativer Zustände) folgendermaßen zusammen:
„Wir gelangen so zu folgendem Bild: In der gesamten Abfolge eines Beobachtungsprozesses gibt es nur ein [Hervorhebung d. V.] physikalisches System, das den Beobachter beinhaltet, aber es gibt keinen einzelnen einmaligen Zustand des Beobachters – .. Nichtsdestoweniger gibt es eine Repräsentanz in Form einer Superposition, in der jeder Bestandteil (Teilwelle) einen bestimmten Beobachter-Zustand [Zustand des Bewusstseins/Gedächtnisses des Beobachters, d. V.] und einen korrespondierenden System-Zustand [physikalische Welt, d. V.] beinhaltet.
Somit ‚verzweigt‘ sich in der Abfolge der Beobachtungen (oder Interaktionen) der Beobachter-Zustand in eine Anzahl unterschiedlicher Zustände. Jeder Zweig repräsentiert ein anderes Ergebnis der Messung und einen korrespondierenden Eigenzustand des gemessenen Systems. Alle Zweige existieren simultan in der Superposition [vgl. 3.2] nach jeder erfolgten Beobachtersequenz.“ [Übers. d. V.]1
Mit dieser Interpretation stellt sich Everett gegen die traditionelle Kopenhagensche Deutung der Quantentheorie, wie sie z.B. der ungarisch-amerikanische Physiker von Neumann darlegt. Neumann unterscheidet in seiner Beschreibung der zeitlichen Entwicklung der Wellenfunktion eines Quantensystems zwei Prozesse:
(i) Prozess 1, der „Kollaps des Wellen-Pakets“ stellt eine „abrupte Veränderung dar, die vermutlich als Ergebnis von Messungen erfolgt. Mit entsprechender Wahrscheinlichkeit ersetzt er die Wellenfunktion durch eine der Eigenfunktionen des Operators, der gerade gemessen wird [z.B. Ort, Impuls, Spin, etc.].
(ii) Prozess 2 andererseits, von dem man ausgeht, dass er das System während der gesamten Zeit bestimmt, ist die deterministische Entwicklung gemäß einer Version der Schrödinger Funktion.“ Die beiden Prozesse sind jedoch mathematisch nicht kompatibel. 2
Bisher gibt es keine akzeptable Begründung der Kollapstheorie (Prozess 1), die durch die Schrödinger Gleichung, die keine plötzliche Veränderung vorsieht, gerechtfertigt wäre. „Everett machte den brillianten Vorschlag, dass Prozess 1 einfach nicht geschieht.“ 3
Abb. 1 Hugh Everett in 1964
Hugh Everett III (1930 – 1982) veröffentlichte 1957 als Doktorand des US-amerikanischen
theoretischen Physikers John Wheeler (1911 – 2008) seine Interpretation der Quantenmechanik, die er als „relative state formulation of quantum mechanics“ („Formulierung der Quantentheorie auf der Grundlage relativer Zustände“) bezeichnete. 4
Everetts ursprüngliche Motivation war eine Formulierung der Quantenmechanik vorzulegen, die Probleme der damals gängigen Kopenhagenschen Interpretation Niels Bohrs vermeiden sollte, welche zwischen Quanten- und klassischer Wirklichkeit unterschied, sowie den Dirac-Neumannschen Kollaps des Zustandsvektors (Quantenwelle) und das damit verbundene „Messproblem“ vermied.
Die Lösung des Messproblems Diracs und van Neumanns bestand in einer Unterbrechung der durch die Schrödinger Gleichung beschriebenen unitären Entwicklung des Zustandsvektors (Quantenwelle). Von Neumann (1955) nannte den Prozess der Unterbrechung Prozess 1 (Kollaps des Quantenwelle) und stellte ihn dem Prozess 2 (der unitären Entwicklung der Schrödingerwelle) entgegen (vgl. oben (i) und (ii)).
Abb. 2: Schematische Darstellung der Quantenwelle eines Elektrons (blau), die sich auf einer elektrischen Leiterbahn (goldfarben) ausbreitet. Die Schrödinger-Gleichung (oben rechts) beschreibt die Ausbreitung solcher Quantenwellen. © Max-Planck-Institut für Festkörperforschung
Everett lehnte die van Neumann’sche Beschreibung ab und „entwickelte zunächst sein Konzept der relativen Zustände bei zusammengesetzten Systemen:
Kommt es zu Wechselwirkungen zwischen Teilen eines Systems, so sind die Zustände dieser Teile nicht mehr unabhängig voneinander, sondern auf eine bestimmte Art und Weise korreliert (vgl. 3.3).
Unter diesem Gesichtspunkt behandelt Everett auch die Messung an einem einfachen Quantensystem.
Den Beobachter definiert Everett dabei als ein beliebiges Quantenobjekt mit der Fähigkeit, sich an das Ergebnis der Messung zu erinnern. Dies bedeutet, dass sich der Zustand des Beobachters [sein Gedächtnis, d.V.] durch das Ergebnis der Messung verändert, da die Messung eines Quantenobjektes jeweils den Quantenzustandes des zu messenden Objektes (z. B. eines Elektrons) modifiziert. Die Messung wird somit lediglich als spezielle Art der Interaktion zweier Quantensysteme behandelt.“ 5
„Die Viele-Welten-Interpretation [VWI] bezieht sich im Wesentlichen auf das Postulat:
Jedes isolierte System entwickelt sich deterministisch gemäß der zeitabhängigen Schrödingergleichung: iħ ∂/∂t|Ψ⟩ = Ĥ |Ψ⟩. Dabei bezeichnet ‚i‘ die imaginäre Einheit, eine komplexe Zahl, deren Quadrat eine nichtpositive reelle Zahl ist, (i2 = -1), ∂/∂t die partielle Ableitung der Wellenfunktion |Ψ⟩ nach der Zeit (t) und Ĥ der Hamiltonoperator (Energieoperator) des Systems (H = Ekin + Epot) also die Summe der kinetischen und potentiellen Energie. ħ (h⁄2π) bezeichnet die reduzierte Plancksche Konstante.
Der Hamiltonoperator wirkt in einem komplexen Vektorraum, dem Hilbertraum, die zu bestimmende Größe |Ψ⟩ ist ein Zustandsvektor in diesem Raum.
Diese generische Form der Schrödingergleichung gilt auch in der relativistischen Quantenmechanik und in der Quantenfeldtheorie.“6
„(1) Da das Universum als Ganzes per definitionem ein isoliertes System ist, entwickelt sich auch dieses gemäß der Schrödingergleichung.
(2) Messungen können keine eindeutigen Ergebnisse haben. Stattdessen sind die unterschiedlichen Messergebnisse auch in unterschiedlichen Realitätszweigen („Welten“) realisiert …
Ein wichtiger Vorteil der VWI ist somit, dass sie im Gegensatz zur Kopenhagenschen Interpretation a priori keine Unterscheidung von klassischen und quantenmechanischen Zuständen kennt. Diese ergibt sich erst aus der Berechnung von Dekohärenzzeiten [vgl. 4.4]; bei einer sehr kleinen Dekohärenzzeit kann ein System als quasiklassisch betrachtet werden. Rein formal ist allerdings in der VWI jedes System zunächst ein Quantensystem.
Everett entwickelte seinen Ansatz zunächst von einem Konzept der relativen Zustände, die er wie folgt einführte:
Ein Gesamtsystem S bestehe aus zwei Teilsystemen S1 und S2, der Hilbertraum des Gesamtsystems H ist das Tensorprodukt der Hilberträume der beiden Teilsysteme (H1 ⊗ H2). S sei in einem reinen Zustand |Ψ⟩ , dann gibt es zu jedem Zustand |X⟩ von S1 einen relativen Zustand |Y⟩ von S2. Damit lässt sich der Zustand des Gesamtsystems schreiben als |Ψ⟩ = ∑i,j αij|X⟩ |Y⟩, wobei∑ das Summenzeichen | Xi⟩ und |Yj⟩ Basen der Teilsysteme sind.
Für beliebige |Xk⟩ läßt sich nun ein relativer Zustand mit Bezug auf das Gesamtsystem konstruieren:
Somit ist es offensichtlich sinnlos, den Teilsystemen bestimmte (unabhängige) Zustände zuzuordnen. Es ist nur möglich, einem Teilsystem einen relativen Zustand bezüglich eines bestimmten Zustandes des anderen Teilsystems zuzuordnen. Die Zustände der Teilsysteme sind somit korreliert. Daraus folgt eine fundamentale Relativität der Zustände bei der Betrachtung zusammengesetzter Systeme.
Einfache zusammengesetzte Systeme sind beispielsweise verschränkte Systeme wie bei Experimenten zur Verletzung der Bellschen Ungleichung:
In diesem Fall kommen beide Spinkomponenten als Basis infrage. Es ist erst dann möglich, eine sinnvolle Aussage über den Zustand eines Teilsystems zu machen, wenn der Zustand des anderen Systems feststeht. Dadurch ist es auch nicht sinnvoll, von einer absoluten Zerlegung des Zustands des Gesamtsystems nach Zuständen der beiden Teilsysteme zu sprechen, sondern nur von einer relativen Zerlegung bezüglich eines bestimmten Zustandes der beiden Teilsysteme.“7

Abb. 1 Schematische Darstellung der Aufteilung als Ergebnis einer wiederholten Messung am Beispiel des kleinstmöglichen echten Quantensystems S, „wie in der Abbildung gezeigt. Dies beschreibt zum Beispiel den Spinzustand eines Elektrons. Betrachtet man eine bestimmte Achse (sagen wir die z-Achse) der Nordpol steht für Spin ‚up‘ und der Südpol für Spin ‚down‘. Die Überlagerungszustände des Systems werden durch eine Kugel beschrieben, die als Bloch-Kugel bezeichnet wird. .. Nach einer Wechselwirkung [mit einem Messbgerät M] kann das kombinierte System als Quantenüberlagerung zweier „alternativer Geschichten“ des ursprünglichen Systems S. angesehen werden, einer, bei dem ‚oben‘ [up] beobachtet wurde, und der anderen, bei dem ‚unten‘ [down] beobachtet wurde. Jede nachfolgende binäre Messung (d.h einer Interaktion mit dem System M.) verursacht eine ähnliche Aufteilung im Verlaufsbaum. Somit kann das System nach drei Messungen als eine Quantenüberlagerung von 8 = 2 × 2 × 2 Kopien des ursprünglichen Systems S. angesehen werden …“ 8
- Hugh Everett III, „Relative State: Formulation of Quantum Mechanics“, Nachdruck aus: Reviews of Modern Physics, 29. 1957, pp. 454-462, Quantum Theory and Measurement, hg.von John Archibald Wheeler und W. Hubert Zurek, Princeton: Princeton University Press, 1983, Teil II.3,pp. 313-323, here: 320, [Digitale Ausgabe], URL: https://books.google.de/books?id=IPEu7aDfEr0C&pg=PA164&lpg=PA164&dq=We+thus+arrived+at+the+following+picture:+Throughout+all+of+a+sequence+of+observation+processes+there+is+only+one+physical+system&source=bl&ots=3T-Xu-XOsU&sig=ACfU3U19R96R9-ZxLaFqGrV54ZV7lLdSaA&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwj8592y4YP0AhX28LsIHaduBjUQ6AF6BAgOEAM#v=onepage&q=We%20thus%20arrived%20at%20the%20following%20picture%3A%20Throughout%20all%20of%20a%20sequence%20of%20observation%20processes%20there%20is%20only%20one%20physical%20system&f=false ↩︎
- Jeffrey A. Barrett, The Single-Mind and Many-Minds Versions of Quantum Mechanics, University of California, 1994, p. 89., [Digitale Ausgabe], URL: https://www.jstor.org/stable/20012606 ↩︎
- Matthew J. Donald, Progress in a Many-Minds Interpretation of Quantum Theory, The Cavendish Laboratory, Madingley Road, Cambridge, Great Britain, 1999, p. 1, [Digitale Ausgabe], URL: http://www.poco.phy.cam.ac.uk/˜mjd101 ↩︎
- The relative state formulation of quantum mechanics. In: Reviews of Modern Physics. Band 29, 1957, S. 454–462, mit einem Kommentar von Wheeler, S. 463–365. Palmer Physical Laboratory, Princeton University, Princeton, New Jersey, [Digitale Ausgabe]: URL: https://pdfs.semanticscholar.org/b1ed/6ba7c0b8615e9d8d7d34f14306369505f25d.pdf ↩︎
- Artikel „Vieler-Welten-Intertpretation“, in: Wikipedia,[Digitale Ausgabe], [URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Viele-Welten-Interpretation ↩︎
- Artikel „Schrödinger Gleichung“, in: Wikipedia,[Digitale Ausgabe], URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Schr%C3%B6dingergleichung ↩︎
- Artikel „Viele-Welten-Interpretation“, in: Wikipedia, [Digitale Ausgabe],[URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Viele-Welten-Interpretation ↩︎
- Phillip Ball, „Why the Many Worlds Interpretation has many problems,“ Quanta Magazine,
[Digitale Ausgabe], URL: https://www.quantamagazine.org/why-the-many-worlds-interpretation-of-quantum-mechanics-has-many-problems-20181018/ ↩︎


