1.2 Materie und Teleologie
1.2.1 Die Unterscheidung der vier „Ursachen“
Aristoteles stellt in seiner Analyse der Wirklichkeit fest, dass alle materiellen Dinge sich auf zwei fundamentale Prinzipien gründen: „Materie“ (hylé) und „Form“ (morphé).
Im Gegensatz zu der materialistischen Ontologie der klassischen Mechanik (vgl. 2.3 die klassische Mechanik Isaac Newtons, 2.0 Der neuzeitliche Anti-Aristotelismus) betrachtet Aristoteles „Materie“ als relationalen Begriff.
Sie ist bestimmt durch eine Verbindung von Physik (hylé) und Metaphysik (morphé) und wird daher im Rahmen der allgemeineren Kategorie „Substanz“ konstituiert, i.e der wesentlichen oder essentiellen Eigenschaften eines Dings, sowie der metaphysischen Unterscheidung zwischen „Potentialität“ und „Aktualität“. „Materie“ , die Aristoteles „primäre Materie“ („proté hylé“) nennt, befindet sich lediglich im potentiellen Zustand eines möglichen Seins und ist daher nicht intelligibel bzw. „existent“.1
Sie bedarf der Einwirkung der „Form („causa formalis“), die Aristoteles aus der jenseitigen, „wahren“ Welt der platonischen Ideen (Idealismus) in die materielle Wirklichkeit der Dinge (Realismus) transponierte.
Der aristotelische „Form“ inhäriert die finale Verursachung der Dinge qua „Zweckursache“ („causa finalis“), die wichtigste der vier aristotelischen Ursachen.
In der zeitlichen Ordnung folgt die finale Ursache an letzter, hinsichtlich der Erklärung der Dinge und ihrer Intelligibilität steht sie jedoch an erster Stelle.
Dies wird z. B. am Bau eines Hauses deutlich. Er beginnt mit dem „Zweck“, in einem Haus zu wohnen (causa finalis), bedarf sodann der Baumaterialien (causa materialis), der Verbindung von Steinen Mörtel zu einer zusammengesetzen Form (causa formalis) durch den Vorgang des Bauens (causa efficiens).2
1.2.2 Das Wesen der Naturgesetze
Die Kenntnis der formalen und materiellen Ursachen ganzer, metaphysisch fundamentaler Dinge, die Aristoteles „Substanzen“ („ousiai“) nannte, ermöglichte es ihre Interaktion vorauszusagen, wobei die Konstanz von Objekten und ihre Eigenschaften durch ideale, substantielle Formen herbeigeführt werden, die „unter“ den veränderlichen Eigenschaften bzw. „Akzidenzien“ „stehen“ („sub stare“).3
„Veränderung“ der „Materie“ als Folge der Wirkung kausaler Kräfte, die sich aus den Formursachen ergeben, nennt Aristoteles effiziente Ursachen (Kausalität).
Es geht ihm dabei nicht um abstrakte Naturgesetze, die Veränderung bewirken, sondern um ein Verstehen der Veränderung als Ergebnis materieller und formaler Ursachen der Kausalität. Die formale Ursache treibt auch die „Zeit“ an, indem sie Veränderung bewirkt.4
Nach dem Naturverständnis des Aristoteles existieren „Substanzen“ hinsichtlich Größe und Zusammensetzung auf vielen Ebenen. Daher erfordert eine vollständige Beschreibung der materiellen Welt mehr als eine Aggregation der mikroskopischen Elemente der Entitäten.
Eine ausschließliche Fokusierung auf die mikroskopische Ebene muss notwendigerweise viele Aspekte der makroskopischen Substanzen und der Kräfte der Kausalität (Ursachen) übersehen, die sich aus den makroskopischen Substanzen ableiten. 5
So ist z. B. das makroskopische Verhalten des Menschen auf Grund seines Bewußtseins kein bloßes Nebenprodukt (Epiphänomen) der Interaktion zwischen mikroskopischer Ebene und seiner Umwelt. Der Mensch beeinflusst dank seiner rationalen Sensitivität für den wahren Wert den Lauf der Dinge in der materiellen Welt ohne Intertaktion zwischen Körper und Seele.6
Mithin würde Aristoteles den physikalistischen Reduktionismus der neuzeitlichen Naturwissenschaft eine eindeutige Absage.
Finale Kausalität, „the universal directedness of things to their natural ‚ends’“ (Telos) [„die universelle Gerichtetheit der Dinge auf ihre natürlichen Ziele“] bezieht sich auf eine ideale Zukunft, nämlich, wie sich die Dinge entwickeln würden, wenn übrigen kausalen Ursachen vollständig und ohne störende Interferenz wirksam werden können.7
1.2.3 Der Aristotelismus Thomas von Aquins
Thomas von Aquin (1225–1274), „einer der ersten Westeuropäer, der die Philosophie des Aristoteles .. wiederentdeckte und ins christliche Denken integrierte.“, 8 stellt in seiner Summa Theologiae fest: „Jeder Stoff verhält sich wegen eines Zwecks: sonst würde ein Dinge nicht mehr als ein anderes Ding in der Aktion eines Stoffes folgen, außer durch Zufall.“ 9
Die finale Zweckursächlichkeit gilt auch für leblose Entitäten. David Armstrong spricht hier von „proto – Intentionalität“ und Georg Molnar von „physischer Intentionalität“. 10
- Simon Oliver, Physics without Physis: On Form and Teleology in Modern Science, Durham University, Durham Research Online, 2020 S. 1ff. [Digitale Ausgabe: URL: https://www.communio-icr.com/files/46.3%E2%80%934_Oliver_final_HQ.pdf ↩︎
↩︎ - Matthias Rugel, Spiel, Sprache,und die intrinsische Natur von Welt und Wirklichkeit, XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, 11. – 15. September 2011, Ludwig-Maximilians-Universität München: 2011, [Digitale Ausgabe], URL: https://epub.ub.uni-muenchen.de/12549/1/Rugel_DKfP2011.pdf
↩︎ - Käthe Trettin, „Neue Überlegungen zu einer klassischen Kategorie des Seienden“, In: der Einleitung des von ihr herausgegebenen Buchs: Substanz. Frankfurt am Main 2005, S. 1↩︎
↩︎ - Robert Koons, Knowing Nature: Aristotle, God and the Quantum, , University of Texas, S. 5, [Digitale Ausgabe], URL: https://www.google.com/url sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwiYxpPShJbsAhWOCOwKHbSECHIQFjAAegQIBRAC&url=https%3A%2F%2Fwww.academia.edu%2F42358860%2FKnowing_Nature_Aristotle_God_and_the_Quantum&usg=AOvVaw0s6CnL-6Txlm0uV1xoquSZ ↩︎
- Ibd. ↩︎
- Artikel „Reduktionisdmus“, in: Spektrum, Metzler Lexikon der Philosophie, [Digitale Ausgabe: URL: https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/reduktionismus/1751 ↩︎
- Robert Koons, Knowing Nature: Aristotle, God and the Quantum, , University of Texas, S. 6, [Digitale Ausgabe], URL: https://www.google.com/url sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwiYxpPShJbsAhWOCOwKHbSECHIQFjAAegQIBRAC&url=https%3A%2F%2Fwww.academia.edu%2F42358860%2FKnowing_Nature_Aristotle_God_and_the_Quantum&usg=AOvVaw0s6CnL-6Txlm0uV1xoquSZ ↩︎
- „Inwiefern hat Thomas von Aquin Aristoteles ‚getauft‘?“, in: Bonifatiusbote, Der Sonntag, Glaube und Leben, Die Kirchenzeitungen für die Bistümer Fulda, Limburg und Mainz, 30. 05. 2014, [Digitale Ausgabe: URL: https://www.kirchenzeitung.de/content/inwiefern-hat-thomas-von-aquin-aristoteles-%E2%80%9Egetauft%E2%80%9 ↩︎
- Thomas von Aquin,Summa Theologiae, Part I, Q 44. Zitiert nach: Robert Koons, Knowing Nature: Aristotle, God and the Quantum, , University of Texas, S. 6, [Digitale Ausgabe], URL: https://www.google.com/url sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwiYxpPShJbsAhWOCOwKHbSECHIQFjAAegQIBRAC&url=https%3A%2F%2Fwww.academia.edu%2F42358860%2FKnowing_Nature_Aristotle_God_and_the_Quantum&usg=AOvVaw0s6CnL-6Txlm0uV1xoquSZ ↩︎
- David Armstrong, The Mind-Body Problem, Boulder, Colorado: Westview Press, 1999, S. 138 – 40. Zitiert nach Robert Koons, Knowing Nature: Aristotle, God and the Quantum, University of Texas, S. 6, [Digitale Ausgabe], URL: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwiYxpPShJbsAhWOCOwKHbSECHIQFjAAegQIBRAC&url=https%3A%2F%2Fwww.academia.edu%2F4235886 ↩︎ ↩︎

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